NICHTS
Leseprobe:
Kapitel 21, Fly The Moon
Cropcrane träumte fast immer von seinem ersten Leben auf der
Erde, was ihn eigentlich auch nicht besonders störte. Was ihn
sehr wohl störte war, dass er das eine Mal von der nächtlichen
Standby-Funktion seines Gehirns wirre Phantasy-Eskapaden
geliefert bekam, ihn das andere Mal jedoch Erinnerungsschübe
heimsuchten, die so echt waren, als erzähle er jemandem von
seinem ersten Leben. Diese Nacht durchlebte er eine Sequenz eines
Urlaubs mit Drag, mit der er mehrere Jahre liiert gewesen war.
Es war im Jahr 2112 der Trads-Zeitrechnung und es war nicht seine
erste Reise zum Mond. Damals waren seine Haare noch glänzend
schwarz, den schulterlangen Zopf trug er aber bereits damals
schon. Er fand, es verlieh ihm das Aussehen des typischen
feurigen Südländers. Sein Vater Richard Cropcrane, der
Mehrheitseigentümer von Virgin Gigantic, hatte ihn zu sich
bestellt und gebeten, persönlich wegen der Sicherung familiärer
Eigentumsrechte raufzufliegen. Interessanter Weise musste man
nach wie vor persönlich seinen Claim abstecken, wollte man sich
ein Stück der Mondoberfläche unter den Nagel reißen. Sein
Vater hatte dies bereits bei mehreren Besuchen am Erdtrabanten
getan und sich die gesetzlich vorgeschriebene Höchstfläche für
Einzelpersonen von fünfzigtausend Hektar angeeignet. Natürlich
konnten auch Strohmänner hinaufgeschickt werden - Richard
Cropcrane vertraute jedoch niemandem außerhalb der Familie.
Der Weltraumvertrag (Outer Space Treaty) von 1967 der alten
Zeitrechnung verbat Staaten, einen Eigentumsanspruch auf
Weltraumkörper wie den Mond zu erheben. Dieses Abkommen wurde
bis 2089 von 192 Staaten der Vereinten Nationen ratifiziert und
war somit 122 Jahre in Kraft, bevor sich, wie immer, das Recht
des Stärkeren durchsetzen konnte. 1979 gab es den Mondvertrag,
der die diversen Lücken des Weltraumvertrags schließen sollte.
Daraufhin meldete der Amerikaner Dennis M. Hope 1980 beim
Grundstücksamt von San Francisco seine Besitzansprüche auf den
Mond an. Da niemand in der nach amerikanischem Recht ausgesetzten
Frist von acht Jahren Einspruch erhob und da das
Outer-Space-Treaty-Abkommen solche Verkäufe an Privatpersonen
nicht explizit verbat, vertrieb Hope die Grundstücke über seine
dafür gegründete Lunar Embassy. Da allerdings das
Grundstücksamt in San Francisco für Himmelskörper nicht
zuständig war und von Hope sowohl das Gesetz, welches solche
Besitzansprüche regelte als auch der Text aus dem
Outer-Space-Treaty abenteuerlich interpretiert wurden, waren die
Grundstücks-zertifikate, die er verkaufte, praktisch wertlos.
Auch ein Deutscher, Martin Jürgens, erhob Ansprüche auf den
Mond. Laut einer Schenkungsurkunde vom 15. Juli 1756, ausgestellt
und unterzeichnet von König Friedrich dem Großen von Preußen,
wurden die Rechte am Mond an die Familie Jürgens für geleistete
Dienste übertragen (»Jetzo soll ihm der Mond gehören«). In
dieser Urkunde war festgelegt worden, dass der Himmelskörper
jeweils an den jüngsten Sohn weitervererbt werden sollte. Die
Familie Jürgens verfügte damals also über die ältesten
verbrieften Eigentumsrechte am Mond. Wie gesagt waren all diese
Ansprüche im Jahre 2112 so viel wert wie heiße Luft – wenige
reiche Familien teilten sich damals die Rechte am Mond.
Natürlich wollte Crop, wie alle Sprösslinge aus gutem Haus, das
Nützliche mit dem Angenehmen verbinden und so buchte er über
das Büro seines Vaters (so kostete ihn der Spaß nichts) eine
Nacht im FlyTheMoon-Dome am Rande des Abel-Kraters auf der
Mondvorderseite. Schließlich wollte, konnte und musste er Drag
imponieren, die auf abgefahrene Parties stand.
Drag war noch nie zum Erdtrabanten geflogen – ihr Herz klopfte
wie wild, als sie im Mondshuttle Platz nahm und die exotischen
Sicherheitsbestimmungen für zivile Mondflüge durchgegeben
wurden. Crop drückte ihr die Hand, als das Trägerflugzeug, an
dessen Unterseite das Shuttle befestigt war, auf die Startbahn
rollte. Die enorme Spannweite des Flugzeugs beeindruckte Crop
immer wieder aufs Neue – die zweihundert Passagiere in ihren
Druckanzügen drückten sich an den Luken die Nasen platt. Der
Start des Trägerflugzeugs unterschied sich im Wesentlichen nicht
von dem bei einem herkömmlichen terrestrischen Flug, von der
Länge der Startbahn abgesehen. Abenteuerlich wurde es erst in
vierzehn Kilometern Höhe, als der Kapitän des Shuttles das
bevorstehende Ausklinken ankündigte. Die Flugbegleiter
überprüften daraufhin die Gurte aller Passagiere nochmals und
begaben sich dann in die für sie bestimmten Schalensitze. Dann
ging alles ganz schnell: Ein trockenes Klicken bestätigte die
Trennung vom Trägerflugzeug, woraufhin das Shuttle
augenblicklich um hundert Meter wegsackte. Die
Gleichgewichtsorgane der Passagiere wollten sich dadurch auf den
freien Fall einstellen, die Beschleunigung durch die in diesem
Moment gezündeten Feststoffraketen und die daraus resultierende
Beschleunigung von drei g hinderte sie jedoch nachdrücklich
daran. Drei Standard-g bedeuteten, dass Drag nunmehr statt 46 kg
138 kg wog – das Gewicht von zwei Sandsäcken drückte auf ihre
Brust und sie erinnerte sich an die Anweisungen des einwöchigen
Bodentrainings. Die Atmung nicht zu flach und die Spannung im
Nabelbereich halten; eigentlich wie Pilates, nur intensiver. Alle
Passagiere mit einer gut ausgebildeten Halsmuskulatur drehten die
Köpfe zu den Luken und versuchten instinktiv, die
Relativgeschwindigkeit des Shuttles abzuschätzen, was jedoch
vergebene Liebesmühe war, denn die obersten Wolkenschichten
waren längst passiert und von der Erde konnte man nichts sehen.
Das Eindrucksvolle war jedoch, dass der Himmel seine Farbe
änderte. Innerhalb von wenigen Minuten wechselte seine Farbe von
hell- zu dunkelblau und kurz darauf schien es, als hätte jemand
das Licht ausgeschaltet. Mitten am Tag konnten die Passagiere nun
die Schwärze des Alls bewundern, gesprenkelt mit Sternen, so
klar sichtbar als könnte man sie greifen. Ein paar weitere
Minuten später kam die Durchsage aus dem Cockpit: »Werte
Passagiere, in wenigen Minuten werden wir die Feststoffraketen
abtrennen. Bitte erschrecken sie nicht über die wegfliegenden
Teile.« Es hatte wohl bei früheren Flügen Herzattacken
gegeben, da einige Fluggäste geglaubt hatten, das Shuttle
zerlegt sich in seine Einzelteile. Nur eine Minute darauf ging
ein Ruck durch die unter Hochspannung stehende Struktur des
Raumschiffs – die Booster waren ausgebrannt und zwei Drittel
des Schubs fielen plötzlich weg. Erleichtert atmeten alle durch.
Die wegtrudelnden Booster-Hülsen waren nur für einen kurzen
Moment sichtbar bevor sie ihren Rückweg zur Erde antraten.
»Werte Passagiere, wir schalten die Bordtriebwerke nun für
einige Minuten für einen Systemcheck aus in fünf, vier, drei,
zwei, eins, null Sekunden.« Nun fiel jeglicher Schub weg, die
Passagiere hingen frei in ihren Gurten und ihre
Gleichgewichtsorgane signalisierten ihnen nunmehr eindeutig: Du
fällst, du fällst, du fällst.
Die Stimme aus dem Cockpit sagte nach alter Tradition: »Welcome
to Space. Genießen sie in den nächsten Minuten die
Schwerelosigkeit bevor es weitergeht zu Luna.« Die Sitzgurte
öffneten sich automatisch und die Fluggäste konnten sich
nunmehr innerhalb eines Radius von fünfzig Zentimetern frei
bewegen, da sie am Hinterteil an einem entsprechend langen Seil
an ihren Sitzen festgemacht waren. Einige übergaben sich in ihre
Tüten, andere schrien vor Vergnügen und wieder andere zappelten
wie wild.
Das war es, was Crop wirklich hasste: Diese Landratten hatten
einfach keinen Stil! Warum konnten diese Dösel nicht einfach den
freien Fall genießen? Für ihn jedenfalls war dies der
Höhepunkt jeder Mondreise gewesen. Als er bemerkte, dass Drag
genüsslich die Augen geschlossen hielt, tat er das Gleiche und
stellte sich vor zu fallen, immer tiefer und tiefer. Er glich
seine Atmung dieser Vorstellung an und nahm immer längere und
tiefere Atemzüge, streckte die Wirbelsäule, entspannte die
Schultern und versuchte, keine Gedanken zu verarbeiten.
Als der Schub wieder einsetzte, öffnete Crop die Augen. Drag
blätterte in der FlyTheMoon-Broschüre als wäre nichts gewesen.
»Ich bin so gespannt. Welcher iJ wird eigentlich spielen?«
»Weiß nicht. Ich glaube, Gus Guffer.«
Crop warf einen Blick auf das Hochglanzprospekt. Der Dome war
schon einzigartig. Unglaublich: Dieser Sid Nihil hatte die Idee
damals wahrlich für einen Pappenstiel hergegeben. Ist einfach zu
CRYOSLEEP.COM reinspaziert und hat die Idee für einen Platz im
Tank eingetauscht. Und dabei hatte er den ältesten Traum der
Menschheit realisiert.
Anders als bei terrestrischen Flügen servierten hier die
Stewards keinen Lunch, sondern Schlaftabletten mit
Metabolismushemmern. Der Sauerstoffverbrauch von zweihundert
Passagieren hätte sonst die Kapazitäten des Shuttles
überfordert. So verschliefen Crop und Drag den
vierundzwanzigstündigen Flug und wurden wie die Anderen geweckt,
als die Scheibe des Erdtrabanten bereits das gesamte Blickfeld
ausfüllte.
Unter ihnen erstreckte sich das Mare Australe. Die Ahs und Ohs im
Shuttle verstummten, als der Kapitän das Raumfahrzeug um die
Querachse drehen ließ um die Bremsvorgänge einzuleiten. Bevor
die Luken aus Sicherheitsgründen versiegelt wurden, konnte Crop
einen flüchtigen Blick auf den Barnard-Krater werfen, der
nördlich von Abel, ihrem Zielort lag. Drag drückte seine linke
Hand. Er musste sich eingestehen auch aufgeregt zu sein. Endlich
würde auch er wie ein Vogel fliegen können!
Nach der Landung wurden alle dekontaminiert. Man nahm den
Passagieren die Druckanzüge ab und checkte sie in den
Transferbereich ein. Auf Crop und seine Freundin wartete ein
Angestellter seines Vaters im VIP-Bereich, der sich mit
Gestatten, Chang vorstellte und lotste die beiden zu einer
Schleuse, an der bereits der firmeneigene Luna-Hopper festgemacht
hatte.
Der Flug zum Abel-Krater war kurz, aber eindrucksvoll. Die im
Mare Australe ohnehin stark zerfurchte Mondoberfläche war über
und über von Kratern bedeckt. Licht und Schatten wechselten sich
in rascher Reihenfolge ab. Der Rand des Abel-Kraters ist stark
erodiert und von unregelmäßiger Form. Er wurde von mehreren
Einschlagskratern eingeschnitten und überlagert. Der Krater Abel
A überlagert den südlichen Rand, während Abel M und Abel L in
den westlichen Kraterrand eindringen. Die innere Fläche im Osten
wurde von Lava-Flüssen neu gestaltet, so dass eine relativ ebene
Fläche mit geringer Albedo entstand. Im Westen ist der
Untergrund rauer und die Albedo entspricht der des Geländes, das
den Krater umgibt.
Der FLYTHEMOON-Dome befand sich am nördlichen Kraterrand. Auf
einen Architekten von der Erde hätte die Statik eine
beunruhigende Wirkung ausgeübt, der Dome wirkte eher wie
aufgeblasen denn selbstragend. Das lag an der geringen
Schwerkraft von einem Sechstel der Erdanziehung. Es reichten hier
für eine parabolische Blase von dreihundert Metern Durchmesser
und hundert Metern Höhe Profile, die auf der Erde sonst für
dreigeschossige Bauten verwendet wurden. So wirkte der Dome am
Kraterrand wie ein außergewöhnlich schönes leuchtendes
Piercing an einer verrunzelten Lippe. Beim Landeanflug sahen die
zwei durch die größtenteils transparente Hülle die
verschiedenen Galerien, die noch nicht besetzt waren – die
tiefstehende Sonne beleuchtete den Dome noch – Partytime war
aber erst in etwa zwei Stunden.
Der Landeplatz neben dem Dome bot Platz für genau hundert
Luna-Hopper, jeweils zehn der Fluggeräte konnten an einem der
zehn Terminals andocken. Sie landeten nur drei Meter von einem
kurzen Schleusenrüssel entfernt und nach einem von einem
Roll-Bot durchgeführten kurzen Check auf giftige
Verbrennungsrückstände wurde die Luke des Hoppers zuerst mit
einem Dampfstrahler gereinigt und anschließend an den Rüssel
angeschlossen. Crop und Drag ließen ihren kindischen
Anwandlungen freien Lauf und absolvierten ihren ersten
gemeinsamen Moonwalk. Sie sprangen in weiten Sätzen die Rollwege
entlang und Chang blieb nichts anderes übrig als mitzuhalten,
sonst hätte er sie bald aus den Augen verloren.
Das Foyer war wie das Restaurant im Sockel des Domes gelegen. Man
sah den riesenhaften Krater vor und unter sich – da durch die
fehlende Atmosphäre des Mondes die Aussicht wie ein
Schwarzweiß-Bild gewirkt hätte, war die gewölbte Verglasung
rötlich gefärbt. Dies ergab die Illusion eines erdähnlichen
Sonnenunterganges, nur war der Kontrast zwischen Licht und
Schatten hier viel stärker.
Der Sekretär von Virgin Gigantic hatte alle Papiere vorbereitet.
Cropcrane Junior musste nicht extra zum betreffenden Grundstück
fliegen um seinen Besitzanspruch geltend zu machen. Seine
Anwesenheit auf Luna tat dem Gesetz Genüge. So unterschrieb er
lediglich während des Essens zwölf Dokumente. Er nahm sich zwar
die Zeit sie durchzulesen, verstand aber nicht alles und hatte
auch keine Lust, den Angestellten seines Vaters um Erklärungen
zu bitten.
So widmete er sich dem lunaren Hedonismus, lieferte Drag beim
Stylisten ab, checkte im Hotel ein und genoss anschließend ein
0,16 g-Bad im Luna-Marriott.
Kurz nach Sonnenuntergang trafen sie sich vor dem Eingang zum
FlyTheMoon-Club. Drag hatte vom Stylisten einen Pagenkopf und
orange fluoreszierende Haartönung verpasst bekommen. Ihr
Flug-Overall war hauteng, blau und ebenfalls fluoreszierend. Crop
stand die Qual der Wahl noch bevor. Nachdem sie die Tickets
abgegeben hatten, suchte er sich sein Dress beim Stylisten im
Club aus. Er wählte einen der teureren Anzüge mit
Barbon-Einsätzen in schlichtem Schwarz und trat vor den Spiegel.
Sein Flug-Overall war ebenfalls körperbetont, glänzte
opalisierend und er gefiel sich darin. Er spreizte die Beine und
hob die Arme, soweit die Flughäute es zuließen.
Er drehte den Kopf zu Drag: »Ich hab einen mit
Barbon-Flughäuten bekommen. Die dehnen sich im Flug nicht so
stark und ich muss mich weniger anstrengen.«
»Faulpelz«, nuschelte Drag, während sie ihr Makeup im
Handspiegel kontrollierte. Er war sich sicher, sie würde die
schönste Muse am heutigen Abend abgeben und er fand, dass er das
auch verdiente. Er trat einige Schritte zurück und tat mehrere
kräftige Flügelschläge wobei er zwar nicht abhob aber immerhin
auf den Zehenspitzen zu stehen kam.
Nun war es soweit. Sie betraten mit mondtypisch-federnden
Schritten den Clubraum. Der Dome war von der Form her dem Gelben
eines Spiegeleis ähnlich. Die Seite, welche zum Abel-Krater
wies, war fast vollständig transparent, das obere Drittel des
Eigelbs war wegen der starken Sonneneinstrahlung untertags
undurchsichtig.
Der dreidimensionale Dancefloor war ein Zylinder mit einem
Durchmesser von dreißig Metern, der bis zur Decke des Domes
reichte. Der Boden bestand aus einem elastischen Netz, durch das
eine beständige Thermik aufstieg. Damit diese nicht in der Höhe
verlorenging, war der Zylinder fast vollständig mit einem
transparenten Material verkleidet, nur hier und da waren große
Öffnungen auf verschiedenen Höhen eingelassen, die zu
verschiedenen Galerien führten, welche bis an den Rand der Blase
reichten und wo auch die Bars untergebracht waren. Die
Verkleidungen des Zylinders dienten gleichzeitig als
Projektionsflächen. Auf verschiedenen Levels konnte man iJ
NotNot bei der Arbeit sehen. In diesem Moment schuf er
ausschließlich Klänge im Höhenbereich, indem er mit den
Fingerspitzen die Stacheln von igelähnlichen Instrumenten
berührte und gleichzeitig seinen Kopf in Achterschleifen
bewegte, womit er den Rhythmus vorgab. Er war an Dutzenden
Schnüren aufgehängt und wurde wie immer (das war sein
Markenzeichen) von einer KI bewegt, die wiederum irgendwie
kortikal mit ihm verbunden war.
NotNot war eine Berühmtheit. Sein klappriger Sound
unverwechselbar. Er arbeitete fast nur mit Höhen. Auf mehreren
Projektionsflächen wurde des Weiteren iJ Gus Guffer als Star des
Abends angekündigt. Wie üblich würde er erst spielen, wenn
alle gegangen waren, die nicht bereit waren, seinen Halu-Spray
einzuatmen. Crop hatte für sich und seine Muse natürlich das
Halu-Ticket gekauft und sie hatten auch die notwendigen
ärztlichen Untersuchungen über sich ergehen lassen, die dafür
erforderlich gewesen waren. So stand einem vergnüglichen Abend
nichts im Wege, zumal auf dem Mond zu dieser Zeit keine Art von
Suchtmittelgesetz existierte.
Wie bei einem Squash-Court betrat man auch den dreidimensionalen
Dancefloor durch eine Glastür. Im Inneren flatterten bereits gut
hundert Gäste zu NotNots Klängen.
»Bleiben wir besser zusammen«, schrie Crop durch den Sound zu
Drag.
»Ja, aber halt ein bisschen Abstand. Ich hab Angst wegen den
Flügeln«, sagte Drag während die beiden den Thermikbereich
betraten. In dessen Mitte war der Auftrieb so stark, dass
Leichtgewichte wie Drag ihre Flügel nur ausbreiten mussten um in
die Höhe getragen zu werden. Sie hatte ein lunares Gewicht von 8
Kilogramm. An den Rändern musste sie leicht mit ihren Flügeln
schlagen um aufzusteigen. Crop mit seinen irdischen siebzig
Kilogramm wog hier elf Kilogramm – er musste sich ranhalten, um
mitzukommen. Immerhin waren sie vorgewarnt worden: Eine
FlyTheMoon-Party war nur etwas für fitte Party-People,
vorausgesetzt, man wollte nicht nur an den Bars rumhängen. Im
Dome waren diese auch schon mit den übergewichtigen Gästen und
sonstigen Bewegungsmuffeln besetzt, die mit neidvollen Blicken
das Geschehen im Tanzzylinder verfolgten.
Crop schritt in die Mitte des Dreißig-Meter-Zylinders.
Er hatte sich den Auftrieb viel stärker vorgestellt. Aber dies
war ja eben das Besondere: Man sollte nicht mit flatternden
Haaren nach oben geblasen werden wie beim Indoor Skydiving,
sondern den Flug des Vogels nachempfinden können.
»Hätte Leonardo da Vinci das nur sehen können«, rief
er in die Richtung, in der er Drag vermutete, spreizte die Beine
etwas und beugte sich mit ausgebreiteten Armen leicht nach vorne.
Bei einer Vorwärts-Neigung von fünfundvierzig Grad bemerkte er,
wie seine Füße den Halt verloren und instinktiv stellte er sich
wieder aufrecht hin.
»Angsthase«, tönte es von oberhalb. Drag schlug
gemächlich ihre Flügel und schwebte mühelos zwei Meter über
ihm. Dabei hatte sie ihre Flughäute nicht einmal vollständig
aufgespannt.
»Komm schon Schatz. Das ist suuuper.«
Er musste sich schnellstens von dem Bodensatz dieser
Versager lösen, die da unschlüssig am Boden vor- und
zurückwippten und sich zu den Partyvögeln da oben gesellen, um
seine Ehre zu retten. Wiederum kippte er vor und ließ es zu, den
Boden unter den Füßen zu verlieren. Er flatterte zweimal - mit
dem Erfolg, dass er wiederum aufrecht am Boden stand.
»Verdammt«, flüsterte er. »Das kann doch nicht so schwer
sein.« Kurz überflogen seine grauen Zellen, worum es hier ging.
»Gut. Ich muss die Beine gespreizt halten, sonst stürze ich ab.
Beine spreizen und nur leicht mit den Flügeln schlagen.«
Diesmal dehnte er die Flughaut zwischen seinen Beinen bis er
seine Oberschenkelmuskulatur deutlich spürte und ließ sich mit
ausgebreiteten Armen nach vorne fallen. Nach zwei gut gelungenen
Flügelschlägen befand er sich einen Meter über dem Boden.
»Okokok, nicht zu stark flattern«, lautete das nächste
Selbstgespräch. Es war eigentlich einfach: Er musste in den drei
Schwerpunkten (zweimal Flügel, einmal Beinflughaut) bei 12
Kilogramm Lunargewicht jeweils nur vier Kilogramm halten; das war
nicht viel für einigermaßen trainierte Menschen. Mit ganz
leichten Flatterbewegungen stieg er alles andere als elegant auf
fünf Meter auf, bis er Drag wieder sah. Sie flatterte nicht, sie
flog mit langsamen, anmutigen Bewegungen ihrer Schwingen und
rief ihm zu: »Typisch. Handbuch nicht gelesen. Stand alles im
Prospekt. Arme nach vorne!«
Jetzt verstand er: Er hatte die Arme zwar ausgebreitet, aber
nicht nach vorne gestreckt. Wenn er ordentlich Druck bei seinen
Flügelschlägen machte, konnte er ganz ohne Beinflughäute oben
bleiben. Er schwenkte die Arme nach vorne, so dass er beide
Hände gut aus den Augenwinkeln sehen konnte und schloss die
Beine etwas. Die leichte Absenkung machte er mit stärkeren
Flügelschlägen wieder wett.
Ich Depp. Die paar Seiten Anleitungen hätte ich ja wohl lesen
können, dachte er und probierte es nun ganz ohne Unterstützung
der Beine. Auch das ging, jedoch war er in den Seitenbereich des
Tanzzylinders abgedriftet und aufgrund der dort schwächeren
Thermik fand er sich plötzlich auf der Schulter eines Neulings
stehend wieder, der erschreckt zu ihm hochblickte. »Sorry«,
entfuhr es ihm, er streckte die Arme weiter vor, bewegte die
Flügel und flog wieder in Richtung der stärkeren Thermik. Nach
ein paar weiteren Minuten hatte er den Dreh raus. Im starken
Bereich der Thermik: Arme weiter zurück. Wo kein oder fast kein
Auftrieb vorhanden war: Arme weiter vor. Die Beine zu schließen
bewirkte bei gleich starken Flügelschlägen immer ein Absinken.
Er sah sich nach Drag um. Sie verfolgte mit hämischem Grinsen
seine Lernerfolge zehn Meter über ihm.
»Komm rauf«, rief sie und tatsächlich brauchte er nur wenige
Sekunden, um zu ihr aufzuschließen.
Nun konnte er die Sache genießen: Er umkreiste Drag, sackte ab
und stieg wieder auf, wagte eine Runde in die höchsten Höhen
und war wie berauscht vom Zusammenwirken von Musik, der Aussicht
auf den mit gelbem Flutlicht erhellten Abel-Krater und dem
Gefühl zu fliegen.