Was tun, wenn man nach fünfhundert Jahren Kälteschlaf und zahlreichen neuronalen und genetischen Anpassungen durch eine fast allwissende künstliche Intelligenz an Bord eines wirklich flotten Raumschiffes aufwacht, sich orientiert und realisiert, dass man schon wieder - so wie im ersten Leben auch  - fast nur von Idioten umgeben ist? Da gibt’s nur eines: Gemeinsam mit der Semi-Androidin SEN, die durch maximales Genetik-Upgrade Verstand, Lust und Wandlungsfähigkeit in sich vereinigt wie keine andere, den Idioten die Suppe zu versalzen, natürlich auch mit Hilfe der künstlichen Intelligenz, der ohnehin nur daran gelegen ist, die ETWAS-Simulation herunterzufahren und das gute alte NICHTS wiederherzustellen.

Im ersten Teil lernen wir ein paar verschrobene Charaktere an Bord der Starburst kennen und gehen mit der künstlichen Intelligenz ZEN auf die Jagd nach dem NICHTS, lernen ein wenig über substraktonistische Meditation und darüber, warum wahrhaft Liebende sich NICHTS, und nicht etwa ETWAS geben.

 

Verrückt genug. Da ist es auch schon fast egal, dass die Welt wie wir sie kennen, eine Simulation, nein, eine schlechte Simulation ist, programmiert von einem faulen Sack, der seinem Professor eine billige StrgC/StrgV-Diplomarbeit unterjubeln wollte und uns leichtfertig erschaffen hat, ohne an die Folgen zu denken.



NICHTS


Leseprobe:


Kapitel 21, Fly The Moon


Cropcrane träumte fast immer von seinem ersten Leben auf der Erde, was ihn eigentlich auch nicht besonders störte. Was ihn sehr wohl störte war, dass er das eine Mal von der nächtlichen Standby-Funktion seines Gehirns wirre Phantasy-Eskapaden geliefert bekam, ihn das andere Mal jedoch Erinnerungsschübe heimsuchten, die so echt waren, als erzähle er jemandem von seinem ersten Leben. Diese Nacht durchlebte er eine Sequenz eines Urlaubs mit Drag, mit der er mehrere Jahre liiert gewesen war.

Es war im Jahr 2112 der Trads-Zeitrechnung und es war nicht seine erste Reise zum Mond. Damals waren seine Haare noch glänzend schwarz, den schulterlangen Zopf trug er aber bereits damals schon. Er fand, es verlieh ihm das Aussehen des typischen feurigen Südländers. Sein Vater Richard Cropcrane, der Mehrheitseigentümer von Virgin Gigantic, hatte ihn zu sich bestellt und gebeten, persönlich wegen der Sicherung familiärer Eigentumsrechte raufzufliegen. Interessanter Weise musste man nach wie vor persönlich seinen Claim abstecken, wollte man sich ein Stück der Mondoberfläche unter den Nagel reißen. Sein Vater hatte dies bereits bei mehreren Besuchen am Erdtrabanten getan und sich die gesetzlich vorgeschriebene Höchstfläche für Einzelpersonen von fünfzigtausend Hektar angeeignet. Natürlich konnten auch Strohmänner hinaufgeschickt werden - Richard Cropcrane vertraute jedoch niemandem außerhalb der Familie.

Der Weltraumvertrag (Outer Space Treaty) von 1967 der alten Zeitrechnung verbat Staaten, einen Eigentumsanspruch auf Weltraumkörper wie den Mond zu erheben. Dieses Abkommen wurde bis 2089 von 192 Staaten der Vereinten Nationen ratifiziert und war somit 122 Jahre in Kraft, bevor sich, wie immer, das Recht des Stärkeren durchsetzen konnte. 1979 gab es den Mondvertrag, der die diversen Lücken des Weltraumvertrags schließen sollte. Daraufhin meldete der Amerikaner Dennis M. Hope 1980 beim Grundstücksamt von San Francisco seine Besitzansprüche auf den Mond an. Da niemand in der nach amerikanischem Recht ausgesetzten Frist von acht Jahren Einspruch erhob und da das Outer-Space-Treaty-Abkommen solche Verkäufe an Privatpersonen nicht explizit verbat, vertrieb Hope die Grundstücke über seine dafür gegründete Lunar Embassy. Da allerdings das Grundstücksamt in San Francisco für Himmelskörper nicht zuständig war und von Hope sowohl das Gesetz, welches solche Besitzansprüche regelte als auch der Text aus dem Outer-Space-Treaty abenteuerlich interpretiert wurden, waren die Grundstücks-zertifikate, die er verkaufte, praktisch wertlos.

Auch ein Deutscher, Martin Jürgens, erhob Ansprüche auf den Mond. Laut einer Schenkungsurkunde vom 15. Juli 1756, ausgestellt und unterzeichnet von König Friedrich dem Großen von Preußen, wurden die Rechte am Mond an die Familie Jürgens für geleistete Dienste übertragen (»Jetzo soll ihm der Mond gehören«). In dieser Urkunde war festgelegt worden, dass der Himmelskörper jeweils an den jüngsten Sohn weitervererbt werden sollte. Die Familie Jürgens verfügte damals also über die ältesten verbrieften Eigentumsrechte am Mond. Wie gesagt waren all diese Ansprüche im Jahre 2112 so viel wert wie heiße Luft – wenige reiche Familien teilten sich damals die Rechte am Mond.

Natürlich wollte Crop, wie alle Sprösslinge aus gutem Haus, das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden und so buchte er über das Büro seines Vaters (so kostete ihn der Spaß nichts) eine Nacht im FlyTheMoon-Dome am Rande des Abel-Kraters auf der Mondvorderseite. Schließlich wollte, konnte und musste er Drag imponieren, die auf abgefahrene Parties stand.

Drag war noch nie zum Erdtrabanten geflogen – ihr Herz klopfte wie wild, als sie im Mondshuttle Platz nahm und die exotischen Sicherheitsbestimmungen für zivile Mondflüge durchgegeben wurden. Crop drückte ihr die Hand, als das Trägerflugzeug, an dessen Unterseite das Shuttle befestigt war, auf die Startbahn rollte. Die enorme Spannweite des Flugzeugs beeindruckte Crop immer wieder aufs Neue – die zweihundert Passagiere in ihren Druckanzügen drückten sich an den Luken die Nasen platt. Der Start des Trägerflugzeugs unterschied sich im Wesentlichen nicht von dem bei einem herkömmlichen terrestrischen Flug, von der Länge der Startbahn abgesehen. Abenteuerlich wurde es erst in vierzehn Kilometern Höhe, als der Kapitän des Shuttles das bevorstehende Ausklinken  ankündigte. Die Flugbegleiter überprüften daraufhin die Gurte aller Passagiere nochmals und begaben sich dann in die für sie bestimmten Schalensitze. Dann ging alles ganz schnell: Ein trockenes Klicken bestätigte die Trennung vom Trägerflugzeug, woraufhin das Shuttle augenblicklich um hundert Meter wegsackte. Die Gleichgewichtsorgane der Passagiere wollten sich dadurch auf den freien Fall einstellen, die Beschleunigung durch die in diesem Moment gezündeten Feststoffraketen und die daraus resultierende Beschleunigung von drei g hinderte sie jedoch nachdrücklich daran. Drei Standard-g bedeuteten, dass Drag nunmehr statt 46 kg 138 kg wog – das Gewicht von zwei Sandsäcken drückte auf ihre Brust und sie erinnerte sich an die Anweisungen des einwöchigen Bodentrainings. Die Atmung nicht zu flach und die Spannung im Nabelbereich halten; eigentlich wie Pilates, nur intensiver. Alle Passagiere mit einer gut ausgebildeten Halsmuskulatur drehten die Köpfe zu den Luken und versuchten instinktiv, die Relativgeschwindigkeit des Shuttles abzuschätzen, was jedoch vergebene Liebesmühe war, denn die obersten Wolkenschichten waren längst passiert und von der Erde konnte man nichts sehen. Das Eindrucksvolle war jedoch, dass der Himmel seine Farbe änderte. Innerhalb von wenigen Minuten wechselte seine Farbe von hell- zu dunkelblau und kurz darauf schien es, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet. Mitten am Tag konnten die Passagiere nun die Schwärze des Alls bewundern, gesprenkelt mit Sternen, so klar sichtbar als könnte man sie greifen. Ein paar weitere Minuten später kam die Durchsage aus dem Cockpit: »Werte Passagiere, in wenigen Minuten werden wir die Feststoffraketen abtrennen. Bitte erschrecken sie nicht über die wegfliegenden Teile.« Es hatte wohl bei früheren Flügen Herzattacken gegeben, da einige Fluggäste geglaubt hatten, das Shuttle zerlegt sich in seine Einzelteile. Nur eine Minute darauf ging ein Ruck durch die unter Hochspannung stehende Struktur des Raumschiffs – die Booster waren ausgebrannt und zwei Drittel des Schubs fielen plötzlich weg. Erleichtert atmeten alle durch. Die wegtrudelnden Booster-Hülsen waren nur für einen kurzen Moment sichtbar bevor sie ihren Rückweg zur Erde antraten.

»Werte Passagiere, wir schalten die Bordtriebwerke nun für einige Minuten für einen Systemcheck aus in fünf, vier, drei, zwei, eins, null  Sekunden.« Nun fiel jeglicher Schub weg, die Passagiere hingen frei in ihren Gurten und ihre Gleichgewichtsorgane signalisierten ihnen nunmehr eindeutig: Du fällst, du fällst, du fällst.

Die Stimme aus dem Cockpit sagte nach alter Tradition: »Welcome to Space. Genießen sie in den nächsten Minuten die Schwerelosigkeit bevor es weitergeht zu Luna.« Die Sitzgurte öffneten sich automatisch und die Fluggäste konnten sich nunmehr innerhalb eines Radius von fünfzig Zentimetern frei bewegen, da sie am Hinterteil an einem entsprechend langen Seil an ihren Sitzen festgemacht waren. Einige übergaben sich in ihre Tüten, andere schrien vor Vergnügen und wieder andere zappelten wie wild.

Das war es, was Crop wirklich hasste: Diese Landratten hatten einfach keinen Stil! Warum konnten diese Dösel nicht einfach den freien Fall genießen? Für ihn jedenfalls war dies der Höhepunkt jeder Mondreise gewesen. Als er bemerkte, dass Drag genüsslich die Augen geschlossen hielt, tat er das Gleiche und stellte sich vor zu fallen, immer tiefer und tiefer. Er glich seine Atmung dieser Vorstellung an und nahm immer längere und tiefere Atemzüge, streckte die Wirbelsäule, entspannte die Schultern und versuchte, keine Gedanken zu verarbeiten.

Als der Schub wieder einsetzte, öffnete Crop die Augen. Drag blätterte in der FlyTheMoon-Broschüre als wäre nichts gewesen.

»Ich bin so gespannt. Welcher iJ wird eigentlich spielen?«

»Weiß nicht. Ich glaube, Gus Guffer.«

Crop warf einen Blick auf das Hochglanzprospekt. Der Dome war schon einzigartig. Unglaublich: Dieser Sid Nihil hatte die Idee damals wahrlich für einen Pappenstiel hergegeben. Ist einfach zu CRYOSLEEP.COM reinspaziert und hat die Idee für einen Platz im Tank eingetauscht. Und dabei hatte er den ältesten Traum der Menschheit realisiert.

 

Anders als bei terrestrischen Flügen servierten hier die Stewards keinen Lunch, sondern Schlaftabletten mit Metabolismushemmern. Der Sauerstoffverbrauch von zweihundert Passagieren hätte sonst die Kapazitäten des Shuttles überfordert. So verschliefen Crop und Drag den vierundzwanzigstündigen Flug und wurden wie die Anderen geweckt, als die Scheibe des Erdtrabanten bereits das gesamte Blickfeld ausfüllte.

Unter ihnen erstreckte sich das Mare Australe. Die Ahs und Ohs im Shuttle verstummten, als der Kapitän das Raumfahrzeug um die Querachse drehen ließ um die Bremsvorgänge einzuleiten. Bevor die Luken aus Sicherheitsgründen versiegelt wurden, konnte Crop einen flüchtigen Blick auf den Barnard-Krater werfen, der nördlich von Abel, ihrem Zielort lag. Drag drückte seine linke Hand. Er musste sich eingestehen auch aufgeregt zu sein. Endlich würde auch er wie ein Vogel fliegen können!

Nach der Landung wurden alle dekontaminiert. Man nahm den Passagieren die Druckanzüge ab und checkte sie in den Transferbereich ein. Auf Crop und seine Freundin wartete ein Angestellter seines Vaters im VIP-Bereich, der sich mit Gestatten, Chang vorstellte und lotste die beiden zu einer Schleuse, an der bereits der firmeneigene Luna-Hopper festgemacht hatte.

Der Flug zum Abel-Krater war kurz, aber eindrucksvoll. Die im Mare Australe ohnehin stark zerfurchte Mondoberfläche war über und über von Kratern bedeckt. Licht und Schatten wechselten sich in rascher Reihenfolge ab. Der Rand des Abel-Kraters ist stark erodiert und von unregelmäßiger Form. Er wurde von mehreren Einschlagskratern eingeschnitten und überlagert. Der Krater Abel A überlagert den südlichen Rand, während Abel M und Abel L in den westlichen Kraterrand eindringen. Die innere Fläche im Osten wurde von Lava-Flüssen neu gestaltet, so dass eine relativ ebene Fläche mit geringer Albedo entstand. Im Westen ist der Untergrund rauer und die Albedo entspricht der des Geländes, das den Krater umgibt.

 

Der FLYTHEMOON-Dome befand sich am nördlichen Kraterrand. Auf einen Architekten von der Erde hätte die Statik eine beunruhigende Wirkung ausgeübt, der Dome wirkte eher wie aufgeblasen denn selbstragend. Das lag an der geringen Schwerkraft von einem Sechstel der Erdanziehung. Es reichten hier für eine parabolische Blase von dreihundert Metern Durchmesser und hundert Metern Höhe Profile, die auf der Erde sonst für dreigeschossige Bauten verwendet wurden. So wirkte der Dome am Kraterrand wie ein außergewöhnlich schönes leuchtendes Piercing an einer verrunzelten Lippe. Beim Landeanflug sahen die zwei durch die größtenteils transparente Hülle die verschiedenen Galerien, die noch nicht besetzt waren – die tiefstehende Sonne beleuchtete den Dome noch – Partytime war aber erst in etwa zwei Stunden.

Der Landeplatz neben dem Dome bot Platz für genau hundert Luna-Hopper, jeweils zehn der Fluggeräte konnten an einem der zehn Terminals andocken. Sie landeten nur drei Meter von einem kurzen Schleusenrüssel entfernt und nach einem von einem Roll-Bot durchgeführten kurzen Check auf giftige Verbrennungsrückstände wurde die Luke des Hoppers zuerst mit einem Dampfstrahler gereinigt und anschließend an den Rüssel angeschlossen. Crop und Drag ließen ihren kindischen Anwandlungen freien Lauf und absolvierten ihren ersten gemeinsamen Moonwalk. Sie sprangen in weiten Sätzen die Rollwege entlang und Chang blieb nichts anderes übrig als mitzuhalten, sonst hätte er sie bald aus den Augen verloren.

Das Foyer war wie das Restaurant im Sockel des Domes gelegen. Man sah den riesenhaften Krater vor und unter sich – da durch die fehlende Atmosphäre des Mondes die Aussicht wie ein Schwarzweiß-Bild gewirkt hätte, war die gewölbte Verglasung rötlich gefärbt. Dies ergab die Illusion eines erdähnlichen Sonnenunterganges, nur war der Kontrast zwischen Licht und Schatten hier viel stärker.

Der Sekretär von Virgin Gigantic hatte alle Papiere vorbereitet. Cropcrane Junior musste nicht extra zum betreffenden Grundstück fliegen um seinen Besitzanspruch geltend zu machen. Seine Anwesenheit auf Luna tat dem Gesetz Genüge. So unterschrieb er lediglich während des Essens zwölf Dokumente. Er nahm sich zwar die Zeit sie durchzulesen, verstand aber nicht alles und hatte auch keine Lust, den Angestellten seines Vaters um Erklärungen zu bitten.

So widmete er sich dem lunaren Hedonismus, lieferte Drag beim Stylisten ab, checkte im Hotel ein und genoss anschließend ein 0,16 g-Bad im Luna-Marriott.

Kurz nach Sonnenuntergang trafen sie sich vor dem Eingang zum FlyTheMoon-Club. Drag hatte vom Stylisten einen Pagenkopf und orange fluoreszierende Haartönung verpasst bekommen. Ihr Flug-Overall war hauteng, blau und ebenfalls fluoreszierend. Crop stand die Qual der Wahl noch bevor. Nachdem sie die Tickets abgegeben hatten, suchte er sich sein Dress beim Stylisten im Club aus. Er wählte einen der teureren Anzüge mit Barbon-Einsätzen in schlichtem Schwarz und trat vor den Spiegel. Sein Flug-Overall war ebenfalls körperbetont, glänzte opalisierend und er gefiel sich darin. Er spreizte die Beine und hob die Arme, soweit die Flughäute es zuließen.

Er drehte den Kopf zu Drag: »Ich hab einen mit Barbon-Flughäuten bekommen. Die dehnen sich im Flug nicht so stark und ich muss mich weniger anstrengen.«

»Faulpelz«, nuschelte Drag, während sie ihr Makeup im Handspiegel kontrollierte. Er war sich sicher, sie würde die schönste Muse am heutigen Abend abgeben und er fand, dass er das auch verdiente. Er trat einige Schritte zurück und tat mehrere kräftige Flügelschläge wobei er zwar nicht abhob aber immerhin auf den Zehenspitzen zu stehen kam.

    Nun war es soweit. Sie betraten mit mondtypisch-federnden Schritten den Clubraum. Der Dome war von der Form her dem Gelben eines Spiegeleis ähnlich. Die Seite, welche zum Abel-Krater wies, war fast vollständig transparent, das obere Drittel des Eigelbs war wegen der starken Sonneneinstrahlung untertags undurchsichtig.

Der dreidimensionale Dancefloor war ein Zylinder mit einem Durchmesser von dreißig Metern, der bis zur Decke des Domes reichte. Der Boden bestand aus einem elastischen Netz, durch das eine beständige Thermik aufstieg. Damit diese nicht in der Höhe verlorenging, war der Zylinder fast vollständig mit einem transparenten Material verkleidet, nur hier und da waren große Öffnungen auf verschiedenen Höhen eingelassen, die zu verschiedenen Galerien führten, welche bis an den Rand der Blase reichten und wo auch die Bars untergebracht waren. Die Verkleidungen des Zylinders dienten gleichzeitig als Projektionsflächen. Auf verschiedenen Levels konnte man iJ NotNot bei der Arbeit sehen. In diesem Moment schuf er ausschließlich Klänge im Höhenbereich, indem er mit den Fingerspitzen die Stacheln von igelähnlichen Instrumenten berührte und gleichzeitig seinen Kopf in Achterschleifen bewegte, womit er den Rhythmus vorgab. Er war an Dutzenden Schnüren aufgehängt und wurde wie immer (das war sein Markenzeichen) von einer KI bewegt, die wiederum irgendwie kortikal mit ihm verbunden war.

    NotNot war eine Berühmtheit. Sein klappriger Sound unverwechselbar. Er arbeitete fast nur mit Höhen. Auf mehreren Projektionsflächen wurde des Weiteren iJ Gus Guffer als Star des Abends angekündigt. Wie üblich würde er erst spielen, wenn alle gegangen waren, die nicht bereit waren, seinen Halu-Spray einzuatmen. Crop hatte für sich und seine Muse natürlich das Halu-Ticket gekauft und sie hatten auch die notwendigen ärztlichen Untersuchungen über sich ergehen lassen, die dafür erforderlich gewesen waren. So stand einem vergnüglichen Abend nichts im Wege, zumal auf dem Mond zu dieser Zeit keine Art von Suchtmittelgesetz existierte.

Wie bei einem Squash-Court betrat man auch den dreidimensionalen Dancefloor durch eine Glastür. Im Inneren flatterten bereits gut hundert Gäste zu NotNots Klängen.

»Bleiben wir besser zusammen«, schrie Crop durch den Sound zu Drag.

»Ja, aber halt ein bisschen Abstand. Ich hab Angst wegen den Flügeln«, sagte Drag während die beiden den Thermikbereich betraten. In dessen Mitte war der Auftrieb so stark, dass Leichtgewichte wie Drag ihre Flügel nur ausbreiten mussten um in die Höhe getragen zu werden. Sie hatte ein lunares Gewicht von 8 Kilogramm. An den Rändern musste sie leicht mit ihren Flügeln schlagen um aufzusteigen. Crop mit seinen irdischen siebzig Kilogramm wog hier elf Kilogramm – er musste sich ranhalten, um mitzukommen. Immerhin waren sie vorgewarnt worden: Eine FlyTheMoon-Party war nur etwas für fitte Party-People, vorausgesetzt, man wollte nicht nur an den Bars rumhängen. Im Dome waren diese auch schon mit den übergewichtigen Gästen und sonstigen Bewegungsmuffeln besetzt, die mit neidvollen Blicken das Geschehen im Tanzzylinder verfolgten.

     Crop schritt in die Mitte des Dreißig-Meter-Zylinders. Er hatte sich den Auftrieb viel stärker vorgestellt. Aber dies war ja eben das Besondere: Man sollte nicht mit flatternden Haaren nach oben geblasen werden wie beim Indoor Skydiving, sondern den Flug des Vogels nachempfinden können.

     »Hätte Leonardo da Vinci das nur sehen können«, rief er in die Richtung, in der er Drag vermutete, spreizte die Beine etwas und beugte sich mit ausgebreiteten Armen leicht nach vorne. Bei einer Vorwärts-Neigung von fünfundvierzig Grad bemerkte er, wie seine Füße den Halt verloren und instinktiv stellte er sich wieder aufrecht hin.

     »Angsthase«, tönte es von oberhalb. Drag schlug gemächlich ihre Flügel und schwebte mühelos zwei Meter über ihm. Dabei hatte sie ihre Flughäute nicht einmal vollständig aufgespannt.

     »Komm schon Schatz. Das ist suuuper.«

     Er musste sich schnellstens von dem Bodensatz dieser Versager lösen, die da unschlüssig am Boden vor- und zurückwippten und sich zu den Partyvögeln da oben gesellen, um seine Ehre zu retten. Wiederum kippte er vor und ließ es zu, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er flatterte zweimal - mit dem Erfolg, dass er wiederum aufrecht am Boden stand.

»Verdammt«, flüsterte er. »Das kann doch nicht so schwer sein.« Kurz überflogen seine grauen Zellen, worum es hier ging. »Gut. Ich muss die Beine gespreizt halten, sonst stürze ich ab. Beine spreizen und nur leicht mit den Flügeln schlagen.« Diesmal dehnte er die Flughaut zwischen seinen Beinen bis er seine Oberschenkelmuskulatur deutlich spürte und ließ sich mit ausgebreiteten Armen nach vorne fallen. Nach zwei gut gelungenen Flügelschlägen befand er sich einen Meter über dem Boden.

»Okokok, nicht zu stark flattern«, lautete das nächste Selbstgespräch. Es war eigentlich einfach: Er musste in den drei Schwerpunkten (zweimal Flügel, einmal Beinflughaut) bei 12 Kilogramm Lunargewicht jeweils nur vier Kilogramm halten; das war nicht viel für einigermaßen trainierte Menschen. Mit ganz leichten Flatterbewegungen stieg er alles andere als elegant auf fünf Meter auf, bis er Drag wieder sah. Sie flatterte nicht, sie flog  mit langsamen, anmutigen Bewegungen ihrer Schwingen und rief ihm zu: »Typisch. Handbuch nicht gelesen. Stand alles im Prospekt. Arme nach vorne!«

Jetzt verstand er: Er hatte die Arme zwar ausgebreitet, aber nicht nach vorne gestreckt. Wenn er ordentlich Druck bei seinen Flügelschlägen machte, konnte er ganz ohne Beinflughäute oben bleiben. Er schwenkte die Arme nach vorne, so dass er beide Hände gut aus den Augenwinkeln sehen konnte und schloss die Beine etwas. Die leichte Absenkung machte er mit stärkeren Flügelschlägen wieder wett.

Ich Depp. Die paar Seiten Anleitungen hätte ich ja wohl lesen können, dachte er und probierte es nun ganz ohne Unterstützung der Beine. Auch das ging, jedoch war er in den Seitenbereich des Tanzzylinders abgedriftet und aufgrund der dort schwächeren Thermik fand er sich plötzlich auf der Schulter eines Neulings stehend wieder, der erschreckt zu ihm hochblickte. »Sorry«, entfuhr es ihm, er streckte die Arme weiter vor, bewegte die Flügel und flog wieder in Richtung der stärkeren Thermik. Nach ein paar weiteren Minuten hatte er den Dreh raus. Im starken Bereich der Thermik: Arme weiter zurück. Wo kein oder fast kein Auftrieb vorhanden war: Arme weiter vor. Die Beine zu schließen bewirkte bei gleich starken Flügelschlägen immer ein Absinken. Er sah sich nach Drag um. Sie verfolgte mit hämischem Grinsen seine Lernerfolge zehn Meter über ihm.

»Komm rauf«, rief sie und tatsächlich brauchte er nur wenige Sekunden, um zu ihr aufzuschließen.

Nun konnte er die Sache genießen: Er umkreiste Drag, sackte ab und stieg wieder auf, wagte eine Runde in die höchsten Höhen und war wie berauscht vom Zusammenwirken von Musik, der Aussicht auf den mit gelbem Flutlicht erhellten Abel-Krater und dem Gefühl zu fliegen.