Inhalt:

 Wenn man stirbt, spult sich das ganze Leben nochmal vor dem geistigen Auge ab. Sagt man, glaube ich aber nicht. Rechnen wir das mal durch:

Nehmen wir an, Sterben dauert fünf Atemzüge lang, das sind, grob gerechnet zehn Sekunden.

Nein?

Gut, ich bin flexibel, sagen wir zwanzig Sekunden. In zwanzig Sekunden erleben wir in Bildern alle Eindrücke eines, wieder geschätzt, siebzigjährigen Lebens. Wir müssen jetzt interpolieren, wie viele Bilder man in siebzig Jahren wahrnimmt und das geht ganz einfach. Ein Spielfilm hat vierundzwanzig Bilder pro Sekunde; das muss so sein, sonst nehmen wir den Film ruckelig und nervig wahr und kriegen Kopfweh davon. Im Leben ruckelt´s ja auch nicht, also sagen wir mal, vierundzwanzig Bilder sind soweit okay.

Also: Wenn wir siebzig Jahre gelebt haben und davon dreiundzwanzig Jahre verschlafen haben, kann man leicht errechnen, dass wir  47x365x24x60x60x24 Bilder im Kopf haben, die nun, im Augenblick des Dahinscheidens abgespult werden wollen.

Und all das in zwanzig Sekunden!?

Ist das nicht ein rechter Stress beim Abnippeln? Bitte, hier die untrüglichen Zahlen: 1.778.630.400 Bilder JEDE SEKUNDE drängen sich durch die grauen Kanäle im hehren Moment, wenn wir dem NICHTS wieder die Hand geben und dabei haben wir erst die Bilder ermittelt, ganz zu schweigen von olfaktorischen und auditiven Eindrücken.


Und jetzt gehen wir mal davon aus, dass der Protagonist M. nur drei Sekunden Zeit hat, um sein Leben revuepassieren zu lassen.

Ein echter Stress ist das!


DREI SEKUNDEN FREIER FALL
(in Arbeit)

Leseprobe:



»Hier. Probieren Sie mal.« M. stemmt sich gegen das Geländer. »Da geht gar nichts. Drücken Sie ruhig mal.«
Ich drücke. Das Geländer biegt sich ein wenig nach außen. Von wegen, da ginge nichts. Mir wird ganz schwummerig und meine Geländer-Traumatisierung drängt sich in den Vordergrund meines Bewusstseins. Mir ist schlecht. Ich ziehe mich soweit wie möglich vom Abgrund zurück und presse mich gegen die Hauswand.
Die ältere Tochter kommt auch raus auf den Balkon. Sie ist scheinbar fertig mit ihrem Hairstyling und hilft ihrem Vater beim Rütteln am Geländer, und das Glas zwischen den Stehern beginnt bedenklich zu scheppern.
Sie lachen mich aus; verhöhnen mich. M. setzt sich in der Mitte auf das Geländer, als fürchtete er weder Tod noch Teufel. Die ältere Tochter lehnt rechts davon und tritt in regelmäßigen Abständen mit dem rechten Fuß brutal gegen die Glasfüllung. Mit dem linken stützt sie sich am Glas ab.
Jetzt verlassen die Katzen verschreckt den Balkon, obwohl sie mir bis jetzt nicht von der Seite gewichen sind.
»Noch nie ist irgendjemand, einfach so, vom Balkon geflogen.« M. sieht zu seiner Tochter und beide kringeln sich vor Lachen. Jetzt kommt auch die jüngere Tochter raus. Sie rüttelt mit, verliert aber schnell das Interesse. Da sie erst jetzt zur Truppe gestoßen ist und den Running Gag verpasst hat, blickt sie sich fragend um, um auf den letzten Stand der Dinge gebracht zu werden.
»Der will uns noch immer weismachen, man stürzt einfach so mal vom Balkon«, kommentiert die ältere Tochter. Sie schlägt mit der flachen Hand gegen einen der Steher aus dünnem Metall. Jetzt versteht auch die Jüngere, was Sache ist.
»Angsthase, Angsthase«, singt sie, während sie die Kurbelstange für die Markise von einem Haken in der Ecke des Balkons nimmt. Ehe wir alle uns versehen, nimmt sie Anlauf wie der junge Artus bei seinen ersten ungelenken Versuchen mit seinem für sein Alter viel zu schweren Schwert. Mit jugendlichem Elan entwickelt sie erstaunliche Kräfte dabei und das Ergebnis ist verblüffend. Excalibur fährt zwischen den Beinen des Vaters hindurch ins Glas und mühelos hindurch; jetzt gibt es nur mehr das Geländer zwischen uns und dem Abgrund. Wir hören, wie die Scherben auf teils unter uns gelegenen Balkonen landen und teilweise auf Grünstreifen und Gehweg auftreffen.
Doch das Klirren und Splittern von Glas steht nicht im Mittelpunkt des Geschehens. M. verliert das Gleichgewicht und kippt – ganz langsam – nach hinten weg, nicht ohne fahrig und unbeholfen mit den Armen zu rudern, während er einen verwunderten Gesichtsausdruck annimmt. In einem parallelen Ereignisraum verschwinden beide Töchter unter dem Geländer. Die junge rutscht aus und schlittert links vom Vater unter der Niro-Stange durch, während die ältere, ihrer gläsernen Fußstütze beraubt, eine nicht unelegante Drehung vollführt, die sie mit dem Gesicht in Richtung Fliesenbelag umstürzen lässt.
Die junge Tochter klammert sich mit der ganzen Kraft ihrer Jugend an den schweren Keramiktopf mit wildem Wein, der an der Trennwand zum Nachbarbalkon steht, und schafft es solcherart, mit dem Oberkörper nicht abzurutschen. Der älteren gelingt es trotz ausgeschlagener Schneidezähne, ihre Fingernägel in die Ritzen zwischen den Bodenplatten zu krallen. Nur M. hat es nicht so gut getroffen. Er kippt noch immer, während er immer schneller mit den Armen fuchtelt, doch in seinen Augen kann man bereits sein Scheitern in dieser Situation ablesen. Auch das Gezappel mit den Beinen verschafft ihm keinen Vorteil. Ich springe in Todesverachtung vor und bekomme seine Krawatte zu fassen, die bei dem ganzen dynamischen Vorgang gerade von einer Brise – oder vielleicht Ms. Fahrtwind - in meine Richtung getragen wird. Zu spät. M. ist schon so weit nach hinten gekippt, dass sein Kopf bereits unterhalb des Geländers ist und aller Kraftaufwand meinerseits spiegelt lediglich Newtons Gesetz von Aktion und Reaktion anschaulich wieder, mehr aber auch nicht.

Newton ist gegen uns. Ich lasse die Krawatte aus und kann mich so von M. befreien, doch der stemmt in einem letzten verzweifelten Versuch, das Unabwendbare zu verhüten und sich noch irgendwie abzufangen, seine Füße mit aller Gewalt in meinen Schritt. Ich werde ausgehebelt und schieße in parabolischem Bogen mit M. über das Geländer. Beim Vorbeiflug erkenne ich, diesmal seitenverkehrt, den Hinterteil einer Jeans, gefüllt mit der zappelnden älteren Tochter, und rechterhand einen hochgerutschten Rock, darunter einen Slip mit hellblauen Elefanten auf weißem Grund und krampfhaft angewinkelte Beine, die in kleine, zarte Füße mit orange-weißen Ringelsocken enden.
Es geht ihnen also gut.
Diese Erkenntnis in der ersten Hälfte der ersten Sekunde des Geschehens beruhigt mich.
Sie werden nicht sterben. Gut so! Wer sollte denn sonst nach uns den Planeten plündern? 
Weiter kann ich mich im Moment nicht mit den Gören befassen, schließlich geht es um Leben und Tod. M. hält mit eisernem Griff meine rechte Hand fest, obwohl das keinen von uns irgendwie weiterbringt. Ich reflektiere kurz, ganz kurz, ob ich die Fallgeschwindigkeit ausrechnen sollte, hebe mir die Rechenarbeit aber für später auf. Ich will um alles in der Welt meine Hand befreien. Jetzt versucht jeder, die kurzen drei bis vier Sekunden zu nutzen, um in eine vorteilhafte Lage vor dem Aufprall zu gelangen. Jeder ist sich selbst der Nächste, wenn es darum geht, mit fast siebzig Stundenkilometern NICHT mit dem Gesicht aufzuschlagen, und in unserem Fall spielt es keine Rolle, wo wir aufschlagen würden. Siebzig Stundenkilometer sind einfach zu viel.
Jetzt beschäftige ich mich doch mit Rechnen, obwohl ich das eigentlich auf später verschieben wollte. Verdammt, doch nur drei Sekunden. Und eine halbe davon ist schon rum. Ich zerre wieder an Ms. Krawatte. Es fällt mir nichts Besseres ein. Zugegeben, eine einseitige Beschäftigung, aber ich erreiche damit, dass M. während des Falls etwas gegen den Uhrzeigersinn rotiert und ich somit eine stabile kniende Position auf ihm erreiche. Er will es nicht wahrhaben und ruckt und drückt an meiner Hand, es beweist sich jedoch, dass der, der beständig ist, am Schluss den Sieg davonträgt. Es liegt blanke Verzweiflung in Ms. Blick, aber da ist noch viel mehr. Er versucht, dem Sensenmann ein Schnippchen zu schlagen und mit dem letzten Flackern seines Bewusstseins Geschichten zu erzählen, lange Geschichten von Kommen und Gehen, von Leben und Tod, ähnlich den Geschichten von zum Tode Verurteilten, die immer länger und länger, komplizierter und sinnloser werden, bis der Verantwortliche am Stromhebel befindet, dass der Delinquent genug gequatscht hat und seines Amtes waltet...