DREI SEKUNDEN FREIER FALL
(in Arbeit)
Leseprobe:
»Hier. Probieren Sie mal.« M. stemmt sich gegen das
Geländer. »Da geht gar nichts. Drücken Sie ruhig
mal.«
Ich drücke. Das Geländer biegt sich ein wenig nach außen.
Von wegen, da ginge nichts. Mir wird ganz schwummerig und
meine Geländer-Traumatisierung drängt sich in den
Vordergrund meines Bewusstseins. Mir ist schlecht. Ich ziehe
mich soweit wie möglich vom Abgrund zurück und presse mich
gegen die Hauswand.
Die ältere Tochter kommt auch raus auf den Balkon. Sie ist
scheinbar fertig mit ihrem Hairstyling und hilft ihrem Vater
beim Rütteln am Geländer, und das Glas zwischen den Stehern
beginnt bedenklich zu scheppern.
Sie lachen mich aus; verhöhnen mich. M. setzt sich in der
Mitte auf das Geländer, als fürchtete er weder Tod noch
Teufel. Die ältere Tochter lehnt rechts davon und tritt in
regelmäßigen Abständen mit dem rechten Fuß brutal gegen
die Glasfüllung. Mit dem linken stützt sie sich am Glas
ab.
Jetzt verlassen die Katzen verschreckt den Balkon, obwohl sie
mir bis jetzt nicht von der Seite gewichen sind.
»Noch nie ist irgendjemand, einfach so, vom Balkon
geflogen.« M. sieht zu seiner Tochter und beide kringeln
sich vor Lachen. Jetzt kommt auch die jüngere Tochter raus.
Sie rüttelt mit, verliert aber schnell das Interesse. Da sie
erst jetzt zur Truppe gestoßen ist und den Running Gag
verpasst hat, blickt sie sich fragend um, um auf den letzten
Stand der Dinge gebracht zu werden.
»Der will uns noch immer weismachen, man stürzt einfach so
mal vom Balkon«, kommentiert die ältere Tochter. Sie
schlägt mit der flachen Hand gegen einen der Steher aus
dünnem Metall. Jetzt versteht auch die Jüngere, was Sache
ist.
»Angsthase, Angsthase«, singt sie, während sie die
Kurbelstange für die Markise von einem Haken in der Ecke des
Balkons nimmt. Ehe wir alle uns versehen, nimmt sie Anlauf
wie der junge Artus bei seinen ersten ungelenken Versuchen
mit seinem für sein Alter viel zu schweren Schwert. Mit
jugendlichem Elan entwickelt sie erstaunliche Kräfte dabei
und das Ergebnis ist verblüffend. Excalibur fährt zwischen
den Beinen des Vaters hindurch ins Glas und mühelos
hindurch; jetzt gibt es nur mehr das Geländer zwischen uns
und dem Abgrund. Wir hören, wie die Scherben auf teils unter
uns gelegenen Balkonen landen und teilweise auf Grünstreifen
und Gehweg auftreffen.
Doch das Klirren und Splittern von Glas steht nicht im
Mittelpunkt des Geschehens. M. verliert das Gleichgewicht und
kippt – ganz langsam – nach hinten weg, nicht ohne fahrig
und unbeholfen mit den Armen zu rudern, während er einen
verwunderten Gesichtsausdruck annimmt. In einem parallelen
Ereignisraum verschwinden beide Töchter unter dem Geländer.
Die junge rutscht aus und schlittert links vom Vater unter
der Niro-Stange durch, während die ältere, ihrer gläsernen
Fußstütze beraubt, eine nicht unelegante Drehung
vollführt, die sie mit dem Gesicht in Richtung Fliesenbelag
umstürzen lässt.
Die junge Tochter klammert sich mit der ganzen Kraft ihrer
Jugend an den schweren Keramiktopf mit wildem Wein, der an
der Trennwand zum Nachbarbalkon steht, und schafft es
solcherart, mit dem Oberkörper nicht abzurutschen. Der
älteren gelingt es trotz ausgeschlagener Schneidezähne,
ihre Fingernägel in die Ritzen zwischen den Bodenplatten zu
krallen. Nur M. hat es nicht so gut getroffen. Er kippt noch
immer, während er immer schneller mit den Armen fuchtelt,
doch in seinen Augen kann man bereits sein Scheitern in
dieser Situation ablesen. Auch das Gezappel mit den Beinen
verschafft ihm keinen Vorteil. Ich springe in Todesverachtung
vor und bekomme seine Krawatte zu fassen, die bei dem ganzen
dynamischen Vorgang gerade von einer Brise – oder
vielleicht Ms. Fahrtwind - in meine Richtung getragen wird.
Zu spät. M. ist schon so weit nach hinten gekippt, dass sein
Kopf bereits unterhalb des Geländers ist und aller
Kraftaufwand meinerseits spiegelt lediglich Newtons Gesetz
von Aktion und Reaktion anschaulich wieder, mehr aber auch
nicht.
Newton ist gegen uns. Ich lasse die Krawatte aus und kann
mich so von M. befreien, doch der stemmt in einem letzten
verzweifelten Versuch, das Unabwendbare zu verhüten und sich
noch irgendwie abzufangen, seine Füße mit aller Gewalt in
meinen Schritt. Ich werde ausgehebelt und schieße in
parabolischem Bogen mit M. über das Geländer. Beim
Vorbeiflug erkenne ich, diesmal seitenverkehrt, den
Hinterteil einer Jeans, gefüllt mit der zappelnden älteren
Tochter, und rechterhand einen hochgerutschten Rock, darunter
einen Slip mit hellblauen Elefanten auf weißem Grund und
krampfhaft angewinkelte Beine, die in kleine, zarte Füße
mit orange-weißen Ringelsocken enden.
Es geht ihnen also gut.
Diese Erkenntnis in der ersten Hälfte der ersten Sekunde des
Geschehens beruhigt mich.
Sie werden nicht sterben. Gut so! Wer sollte denn sonst nach
uns den Planeten plündern?
Weiter kann ich mich im Moment nicht mit den Gören befassen,
schließlich geht es um Leben und Tod. M. hält mit eisernem
Griff meine rechte Hand fest, obwohl das keinen von uns
irgendwie weiterbringt. Ich reflektiere kurz, ganz kurz, ob
ich die Fallgeschwindigkeit ausrechnen sollte, hebe mir die
Rechenarbeit aber für später auf. Ich will um alles in der
Welt meine Hand befreien. Jetzt versucht jeder, die kurzen
drei bis vier Sekunden zu nutzen, um in eine vorteilhafte
Lage vor dem Aufprall zu gelangen. Jeder ist sich selbst der
Nächste, wenn es darum geht, mit fast siebzig
Stundenkilometern NICHT mit dem Gesicht aufzuschlagen, und in
unserem Fall spielt es keine Rolle, wo wir aufschlagen
würden. Siebzig Stundenkilometer sind einfach zu viel.
Jetzt beschäftige ich mich doch mit Rechnen, obwohl ich das
eigentlich auf später verschieben wollte. Verdammt, doch nur
drei Sekunden. Und eine halbe davon ist schon rum. Ich zerre
wieder an Ms. Krawatte. Es fällt mir nichts Besseres ein.
Zugegeben, eine einseitige Beschäftigung, aber ich erreiche
damit, dass M. während des Falls etwas gegen den
Uhrzeigersinn rotiert und ich somit eine stabile kniende
Position auf ihm erreiche. Er will es nicht wahrhaben und
ruckt und drückt an meiner Hand, es beweist sich jedoch,
dass der, der beständig ist, am Schluss den Sieg
davonträgt. Es liegt blanke Verzweiflung in Ms. Blick, aber
da ist noch viel mehr. Er versucht, dem Sensenmann ein
Schnippchen zu schlagen und mit dem letzten Flackern seines
Bewusstseins Geschichten zu erzählen, lange Geschichten von
Kommen und Gehen, von Leben und Tod, ähnlich den Geschichten
von zum Tode Verurteilten, die immer länger und länger,
komplizierter und sinnloser werden, bis der Verantwortliche
am Stromhebel befindet, dass der Delinquent genug gequatscht
hat und seines Amtes waltet...